Wie Inkompetente Gesundheitsgurus Ihnen die gesunde Langlebigkeit vermasseln

Written by Lutz Kraushaar

28.11.2023

Dunning Kruger Effect

Einleitung

In der Medizin hat sich der Irrglaube festgefressen, man könne die Ergebnisse klinischer Studien auf den einzelnen Patienten übertragen [1,2]. Dieser Aberglaube ist zum Geburtshelfer zweier Phänomene geworden:

  • halbwissende Gesundheitsgurus, die zu inkompetent sind, um ihrer Fehlinterpretation medizinischer Studien gewahr zu werden
  • gutgläubige Anhänger, die dank der Gurus jene Gesundheitsziele verfehlen, die sie mit fundiertem Rat erreichen könnten.

Das erste Phänomen ist ein klassischer  Dunning-Kruger-Effekt: Selbstüberschätzung aufgrund ungenügenden Wissens, die eigene Inkompetenz zu erkennen.

Schon Charles Darwin war das aufgefallen:

“Ignorance more frequently begets confidence than does knowledge” Charles Darwin

Auf deutsch:

„Häufiger ist es Unwissenheit als Wissen, was Selbstvertrauen schafft“

Das zweite Phänomen schadet besonders jenen, die den Krankheiten des Alters entrinnen wollen: Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes, Demenz, Gebrechlichkeit und Krebs.

Die meisten könnten das schaffen, indem sie ihr Gesundheitsverhalten rechtzeitig optimieren. Aber was optimal ist für mich, ist es wahrscheinlich nicht für Sie.

Genau das aber müssen Sie erkennen, BEVOR es zu spät ist.

Deshalb will ich hier drei Fragen beantworten

  • Warum sich Studienergebnissen nicht auf den Einzelnen übertragen lassen
  • Warum die Nichtübertragbarkeit ein Segen ist
  • Wie Sie Ihre angestrebten Gesundheitsziele treffsicher erreichen

Warum Sie Studienergebnisse nicht auf sich selbst übertragen können

 Wenn Sie schon viele Jahre regelmäßig Sport treiben, haben Sie es wahrscheinlich schon bemerkt: das Gefühl, dass Ihre biologische Uhr irgendwie langsamer tickt.

Dass da tatsächlich was dran ist, lehrt uns die Wissenschaft.

Forscher verglichen die Endothelzellen (EZ) von körperlich aktiven Ü60-Jährigen (a) mit denen von gesunden, aber bewegungsarmen Ü20-Jährigen, und (b) mit denen von ebenfalls gesunden und bewegungsarmen Gleichaltrigen (Ü60).


Anmerkung 1

Was ist das Besondere an den Endothelzellen?

Das Endothel ist die innerste Auskleidung unserer Blutgefäße (Arterien und Venen).

Sie ist DAS Schutzschild gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen (HKE). Da Herz-Kreislauf-Erkrankungen unentwirrbar mit dem Alterungsprozess verbandelt sind, macht es eben Sinn, den Alterungsstatus der EZs unter die Lupe zu nehmen.


Die Forscher entdeckten, dass die Zellen der körperlich aktiven 60-Jährigen nicht von denen der 20-Jährigen zu unterscheiden waren. Die EZ der bewegungsarmen 60-Jährigen kamen aber biologisch deutlich älter daher als die der beiden anderen Gruppen [3].

O-Ton der Studienautoren:

“The results … provide novel evidence in humans for increased endothelial cell (EC) senescence with healthy aging and a lack of increase in older adults who perform habitual aerobic exercise.”

auf deutsch

„Die Ergebnisse … liefern völlig neue Beweise für eine zunehmende Vergreisung der Endothelzellen (EC) im Laufe gesunden Alterns, und ein Ausbleiben der Vergreisung bei älteren Erwachsenen, die regelmäßig Ausdauersport treiben.“

Mit anderen Worten: Endothelzellen altern zwar, aber mit Sport tun sie das so langsam, dass man mit Ü60 zellulär so jung ist wie 40 Jahre jüngere Bewegungsmuffel.

Die Autoren der Studie veranschaulichten ihre Ergebnisse mit Diagrammen wie dem folgenden.

Abbildung 1:

p53 expression

p53 ist ein Zellprotein, das mit der Zellvergreisung korreliert. Mehr dazu weiter unten.

Die Gruppe der älteren Bewegungsmuffel unterscheidet sich eindrucksvoll von den beiden anderen.

So kamen die Studienautoren zu ihren Kernaussagen:

  • “kein Unterschied zwischen alten Sportlern und jungen Bewegungsmuffeln”
  • “großer Unterschied zwischen alten Sportlern und alten Bewegungsmuffeln”.

Diese Aussagen sind statistisch völlig korrekt, denn die Forscher verglichen ja Personengruppen miteonande, die sich in bestimmten Merkmalen unterschieden (in diesem Fall Alter und Bewegungsverhalten).

Allerdings verbergen solche Diagramme ein faszinierendes Phänomen:

Unterschiedliche Mittelwerte trennen Gruppen voneinander, nicht einzelne Personen.

Im toten Winkel der Statistik

Die Grafik unten präsentiert die Daten etwas anders.

Um sie zu erstellen, habe ich aus den Studiendaten die Teilnehmer der drei Studiengruppen simuliert (eine legitime statistische Methode, Stichproben-populationen aus bekannten Daten zu ziehen).

Abbildung 2

Jeder Punkt steht für den p53-Wert eines Teilnehmers. Die wichtigste Erkenntnis aus diesem  Diagramm ist die erhebliche Überlappung der Gruppen.

Fünf der 14 Ü60 Sportler (36 % der Gruppe) haben p53-Werte, die im gleichen Bereich liegen wie die ihrer gleichaltrigen bewegungsarmen Kollegen (der letzte Punkt steht für zwei Personen mit nahezu identischen Werten).

Alle Ü60 Bewegungsmuffel liegen innerhalb des Bereichs der Ü60 Sportler, und immerhin noch 72 % von ihnen innerhalb des Bereichs der jungen Bewegungsmuffel.

Können Sie aus dem Vergleich der Durchschnittswerte Ihren zu erwartenden Nutzen ableiten?

Offensichtlich nicht. Denn den durchschnittlichen Teilnehmer gibt es nicht. Weder in der Forschung noch in der „freien Wildbahn”.

Die folgende Grafik veranschaulicht das.

Abbildung 3:

Nur Teilnehmer Nr. 2 hat einen p53 Wert, der dem Durchschnittswert entspricht. Und auch das ist nur Zufall. Die Teilnehmer Nr. 1 und 12 liegen nah dran, aber alle anderen haben p53 Werte, die deutlich vom Gruppendurchschnitt abweichen.

Dieses Bild ist typisch für nahezu alle medizinischen Studien.

Es zeigt, warum Sie aus den Ergebnissen Gruppen-basierter Studien nie auf sich selbst schließen können [1,2].

Jetzt also zur Frage…

Warum die Nichtübertragbarkeit von Studienergebnissen auf den Einzelnen ein Segen ist

Schauen Sie nochmal auf Abbildung 2

Nehmen wir mal an, dass p53 wirklich das biologische Alter widerspiegelt (was nicht ganz der Fall ist, und ich erkläre gleich, warum, will aber jetzt nicht vom Thema ablenken).

Im Alter von 60+ einen Wert von 0,5 zu haben heißt, dass Ihr Bewegungspensum entweder wenig bringt (wenn Sie zu den aktiven Ü60 gehören), oder sehr viel, wenn Sie zu den Bewegungsmuffeln gehören.

Der Grund dafür versteckt sich in den Einschlusskriterien für die beiden Ü60 Gruppen:

Die Voraussetzung für die trainierten Ü60 lautete:

„…vigorous aerobic exercise including competitive cycling, running, and/or triathlons, for ≥5 days/wk and ≥45 min/session for at least the preceding 5 years”.

Auf deutsch

“…intensiver Ausdauersport, einschließlich wettkampfmäßigen Radfahrens, Laufen und/oder Triathlon, an ≥5 Tagen/Woche und ≥45 Minuten/Trainingseinheit für mindestens die letzten 5 Jahre”.

Das ist schon sehr ambitioniert.

Aber auch die „Bewegungsmuffel“ waren körperlich aktiver, als die Bezeichnung “bewegungsarm (sedentary)” es vermuten lässt:

Ausdauertraining ja, aber nicht mehr als zweimal pro Woche und nicht mehr als insgesamt 60 Minuten pro Woche. Und es gab keine Einschränkung fürs Krafttraining.

Abbildung 2 zeigt, dass Menschen mit einer sehr unterschiedlichen Trainingshistorie denselben biologischen Altersindikator p53 von bspw. 0,5 haben können

Für den Fitness-Extremisten ist 0,5 das eher magere Ergebnis einer enormen Anstrengung, die gleichermaßen aktive Kollegen mit einem viel besseren Wert belohnt.

Im Vergleich dazu erreicht der „bewegungsarme“ Ü60 die 0,5-Marke quasi schlafwandelnd.

Unfair, oder?

Nö!

Es geht hier nicht um Fairness, sondern um Fehlanpassung.

Wenn Sie und ich mit unterschiedlichem Bewegungspensum das gleiche Ergebnis erzielen, und mit dem gleichen Pensum unterschiedliche Ergebnisse, dann ist es nicht das Trainingspensum allein, das unsere individuellen Ergebnisse bestimmt.

Vielmehr kommt es darauf an, wie gut die jeweilige Trainingsdosis zu unserer individuellen Erbanlage passt.

Und genau in dieser Erkenntnis liegt der „Segen“:

Wir brauchen uns nicht an irgendeine Trainingsschablone halten, nur weil die einer Studiengruppe „im Durchschnitt“ einen bestimmten Nutzen beschert hat. Oder weil der Gesundheitsguru die Studie unreflektiert nachbetet.

Wir müssen nur den „perfect match“ zwischen Erbanlage und Verhalten finden.

Den können wir zwar leider nicht aus unserer Erbanlage ableiten (davon sind wir noch Lichtjahre entfernt). Aber im methodisch sauberen Trial-and-Error Verfahren schaffen wir es auf die persönliche Zielgerade zum krankheitsbefreiten Altern.

Dazu brauchen Sie nur zwei Dinge:

  • Einen zuverlässige Messlatte für die Rate der biologischen Alterung
  • Echtzeit-Feedback über die Auswirkungen Ihres Trainings auf diese Rate

Allerdings taugt weder p53 noch irgendein anderer molekularer Marker für diesen Zweck. Das Beispiel p53 ist stellvertretend für nahezu alle Moleküle:

Anmerkung 2: Protein p53 – keine Messlatte fürs Altern

p53 ist aus zwei Gründen als Marker nutzlos für Sie:

    • Zweischneidigkeit: p53 ist ein Pro-aging UND Anti-Krebs-Protein
    • Analytische Hürde: invasiv + aufwendig + teuer = nicht laientauglich

P53 treibt Zellen entweder zur Selbstzerstörung (Apoptosis) oder zur Seneszenz (das zelluläre Äquivalent der Vergreisung).

Apoptosis und Seneszenz sind ein Segen, wenn Zellen mutieren, da diese sonst zu Krebs werden.

Schlecht ist es jedoch, wenn zu viele seneszente Zellen „herumhängen“. Sie vermehren sich zwar nicht (womit die Krebsgefahr gebannt ist), aber sie scheiden Moleküle aus, die bei ihren direkten Nachbarn ebenfalls die Vergreisung auslösen. Je mehr vergreiste Zellen, umso älter ist das Gewebe oder Organ, das diese Zellen beherbergt.

Für p53 gilt deshalb, ein Zuviel ist für den gesamten Organismus ebenso unerwünscht wie ein Zuwenig [4].

Wie Sie Ihre angestrebten Gesundheitsziele treffsicher erreichen

In einem anderen Beitrag habe ich im Detail erklärt

  • wie Sie sich selbst zur klinischen Ein-Personen-Studie machen,
  • warum die Pulswellengeschwindigkeit (PWV) Ihr optimaler Marker ist,
  • dass das Selbstexperiment so einfach sein kann wie das morgendliche Wiegen auf einer speziellen Badezimmerwaage.

Scrollen Sie einfach nach unten zum Abschnitt “Lösung” (wenn Sie den ersten Teil des Beitrags überspringen möchten).

In diesem Beitrag ging es zwar um Ernährung, aber die Methode ist 1:1 übertragbar auf Bewegung.

Im Gegensatz zur Vielfalt der möglichen Ernährungsstrategien haben Sie bei der Bewegung gerade mal vier Hebel, mit denen Sie die Effizienz Ihrer Trainingsroutinen individualisiert optimieren.

      • F = Häufigkeit
      • I = Intensität
      • T = Zeit (Dauer)
      • T = Art der Übung

Die folgende Abbildung fasst zusammen, was Studien zur Wirkung der Hebel auf die Endothelfunktion aussagen, und damit auf den Prozess der Gefäßverjüngung.

 

Abbildung 4

FITT principle and effects on endothelial health

Wie Sie jetzt wissen, sind diese Ergebnisse aber nicht unbedingt auf Sie übertragbar.

Deshalb werde ich in meinem nächsten Beitrag aus all diesen Studien die für Sie wichtigen Ergebnisse filtern:

  • Die Bandbreite möglicher Effektstärken (damit Sie Prioritäten setzen können)
  • Die Profile der Studienteilnehmer (damit Sie sie mit sich selbst vergleichen können)

Beide Informationen werden Ihnen dabei helfen, Prioritäten zu setzen, an welchen Hebeln Sie zuerst arbeiten sollten.

Jedenfalls müssen Sie sich nicht mehr darauf verlassen, dass irgendein Gesundheitsguru Studienergebnisse nachplappert, die sein Halbwissen übersteigen.


Aus jedem Versatz zwischen Erbanlage und Verhalten wird auf die Dauer eine Kluft zwischen Gesundheitswunsch und -wirklichkeit.“


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References

[1]      Fisher AJ, Medaglia JD, Jeronimus BF. Lack of group-to-individual generalizability is a threat to human subjects research. Proc Natl Acad Sci U S A 2018;115:E6106–15. doi:10.1073/pnas.1711978115.

[2]      Kent D, Hayward R. When averages hide individual differences in clinical trials. Am Sci 2007;95:60–8. doi:10.1511/2007.63.60.

[3]      Rossman MJ, Kaplon RE, Hill SD, McNamara MN, Santos-Parker JR, Pierce GL, et al. Endothelial cell senescence with aging in healthy humans: prevention by habitual exercise and relation to vascular endothelial function. Am J Physiol Circ Physiol 2017;313:H890–5. doi:10.1152/ajpheart.00416.2017.

[4]      Rodier F, Campisi J, Bhaumik D. Two faces of p53: Aging and tumor suppression. Nucleic Acids Res 2007;35:7475–84. doi:10.1093/nar/gkm744.

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